Stacheldrahtkrankheit, Hunger und Theateraufführungen: Eine Ausstellung zeigt den Alltag in den Celler Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkriegs.
 
Hinter Stacheldraht: Russen, Belgier und Italiener, aber auch Briten, Serben und Franzosen waren 1918 im sogenannten Cellelager inhaftiert.
Quelle: Stadtarchiv Celle
 
„Die Hitze lastet schwer auf dem Sand der baumlosen Wege und auf dem geteerten Dach der Baracken“, schreibt Carlo Emilio Gadda unter dem Datum 21. Mai 1918. „Die Nachmittagsstunden fangen an, unerträglich zu werden.“ Der Grund dafür ist nicht nur, dass es heiß ist: „Mein körperliches Befinden ist mangelhaft; nervöse Gereiztheit, Kummer, Sehschwäche.“
Gadda, 1893 in Mailand geboren und 1973 in Rom gestorben, notiert diese Zeilen in seinem „Tagebuch der Gefangenschaft“. Er protokolliert sein Leben als Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg im sogenannten Cellelager, einem Barackenlager für bis zu 10000 Soldaten in dem Örtchen Scheuen, das damals vor den Toren von Celle lag und heute eingemeindet ist. Er schreibt jeweils dazu, wo er sich gerade befindet. Meistens lautet die Formulierung: „Cellelager, Block C, Baracke 15, Schlafsaal B.“
Vor allem Russen, Belgier und Italiener, aber auch Briten und Serben und Franzosen waren im Cellelager unter wenig erfreulichen Bedingungen eingesperrt. Es war eines der größten Lager in der Provinz. Aber kurioserweise trafen im Cellelager auch mehrere Künstler aufeinander, darunter eben jener Carlo Emilio Gadda (der später für die moderne italienische Literatur prägend wurde). Während ein paar Kilometer weg, im Celler Schloss, eine weitere Absonderlichkeit exitierte: das reichsweit einzige Lager für „Zivilgefangene höherer Lebensstellung“, mit rund 250 Insassen. Und mit deutlich mehr Komfort für die Herren, zu denen Professores und Doktores und Industrielle zählten.
 
Ein Armenier in Celle
Das Leben in beiden Lagern ist zur Zeit Thema einer Sonderausstellung im Celler Bomann-Museum. „Hinter Stacheldraht“ heißt sie. Anlass ist die 100. Wiederkehr des Kriegsendes. Auslöser aber war, dass Kuratorin Hilke Langhammer vor Jahren auf ein Fotoalbum mit Bildern aus jeder Zeit stieß und darin eine Aufnahme eines armenischen Offiziers fand. Was machte ein Armenier in Celle? Der Mann entpuppte sich als Duncan Heaton-Armstrong, halb Brite, halb Österreicher und Privatsekretär des deutschen Adeligen Wilhelm Prinz zu Wied, der wiederum ein halbes Jahr Fürst von Albanien war. Mit den Kindern des Fürsten hatte sich Heaton-Armstrong wegen der langsam brenzligen Sicherheitslage 1914 nach Deutschland aufgemacht – wo er, diplomatenrechtswidrigerweise, als feindlicher Ausländer interniert wurde. Aber immerhin bewegte das alles Hilke Langhammer dazu, genauer hinzuschauen.
In Celle-Scheuen leiden die Gefangenen unter dem Wetter, „unter der andauernden Feuchtigkeit“, wie Carlo Emilio Gadda notiert. Und unter den Betten, die aus einer sargähnlichen Kiste und einem „Sack mit zusammengepresstem Gestrüpp“ bestehen. Schlimm sind auch die Demütigungen durch die Aufseher, bei Appellen und anderswo, man müsse „die flegelhaften Launen dieser Soldatenbrut“ ertragen, „wo der Deutsche den Menschen in sich verschwinden lässt und das habgierige, heuchlerische, schäbige und gemeine Raubtier herauskehrt“.
Und dieses Essen! „Säuerliche Rüben und stinkender Fisch“ und dergleichen. Graupen. Kohl. Gadda verwendet immer wieder den Begriff „sbobba“, eigentlich das italienische Wort für Brühe, aber es bedeutet auch „Fraß“. Im Lager der Herren im Celler Schloss dagegen, wo viele bei Kriegsbeginn durchreisende Ausländer und etliche Priester eingesperrt sind, steht Rindfleisch mit Schnittlauchsoße auf dem Speiseplan, oder Spargel oder Räucherfisch. Und das selbst dann noch, als das ganze Reich, nach Missernten und Embargo und Steckrübenwinter, unter böser Lebensmittelknappheit leidet.
Um es deutlich zu sagen: Schön ist das Leben in dem Lager in Scheuen zwar nicht, und selbst die Schloss-Insassen fühlen sich, obwohl sie Dreiteiler tragen und einen Theatersaal haben, eingekerkert. Aber das Gefangenendasein zu jener Zeit ist in keiner Weise mit dem Leid derer zu vergleichen, die zwei Jahrzehnte später den Nazis und der Wehrmacht in die Hände fallen. Im Ersten Weltkrieg schützt noch die Haager Landkriegsordnung Mannschaften wie Offiziere – sie müssen behandelt werden wie die eigenen Truppen. Das Internationale Rote Kreuz organisiert zudem Verpflegung aus den Heimatstaaten.
 
Eine Universität im Lager
In diesem Fall aber sind die Russen und die Italiener davon oft ausgenommen. Die Russen deswegen, weil Russland den Versand von Nahrungsmitteln nicht auf die Reihe kriegt. Und Italien, weil das Land zahllose Gefangene nicht als Gefangene sieht, sondern als Verräter und Deserteure, weil sie sich dem Feind in der Schlacht ergeben haben. Viele leiden also Hunger.
Und sie leiden an der „Stacheldrahtkrankheit“, wie das damals die Seelendoktoren nannten: der Schmerz der Unfreiheit, der Untätigkeit, den Unwohlseins. Dagegen wurde aber auch was getan: Sport. Theater. Orchester. Gottesdienste. Chöre. Es gab regelrechte Seminare einer eigenen Lageruniversität, mit Vorlesungen zu Kunst und Architektur und Physik und dergleichen.
 
In Scheuen tauschen sich zudem drei italienische Intellektuelle aus, die der Zufall dort vereint hat: Außer Gadda sind das der Dramatiker Ugo Betti und der Germanist Bonaventura Tecchi. Sie diskutieren, sie schreiben über ihr Leben – Zeugnis davon legt das Buch „Die Baracke der Dichter“ ab (herausgegeben von Oskar Ansull, erschienen im zu Klampen-Verlag in Springe). Auch andere künstlerische Seelen befassen sich mit ihrem Lageralltag, Komponisten wie Giuseppe Denti, Zeichner wie Francesco Nonni. Gadda ist von sich selbst übrigens nicht überzeugt: „Meine Art zu schreiben, so hölzern wie meine Person, ist einfach schwer verdaulich.“ Später soll ihn sein Erfolg Lügen strafen.
Der Erste Weltkrieg endet am 11. November 1918. Nach ein paar Wirren verlässt Carlo Emilio Gadda Celle am 1. Januar 1919, da existiert das Lager offiziell gar nicht mehr. Später wird es wieder in Betrieb genommen, für russische Soldaten, die noch nicht nach Hause können, dann kommen dort ausgewiesene Deutschrussen und andere Heimatlose unter. 1925 ist endgültig Schluss in Scheuen. Heute gibt es nur noch den Friedhof dort, für die 258 Toten aus der Kriegslagerzeit. Rundherum sind Wohngebiete. Die Leute dort graben bei der Gartenarbeit manchmal noch Knöpfe und Schnallen von damals aus dem Boden.
Die Ausstellung im Bomann-Museum am Schlossplatz in Celle ist noch bis zum 11. November zu sehen.
 
Von Bert Strebe / 13.06.2018
 

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