Anfang 2017 habe er sich an die WASt in Berlin gewandt, berichtet der 73-Jährige. Die WASt, das ist die Abkürzung für die Wehrmachts-Auskunftsstelle, oder vollständig die „Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“. Sie wurde bereits 1939 gegründet, bestand nach dem Krieg fort und wurde 2018 dem Bundesarchiv angegliedert. Osterholt hatte für seine Anfrage einen Auszug aus dem Familien-Stammbuch eingereicht, dazu Erwins Geburtsdatum und seine Feldpostnummer. Man habe ihn vorgewarnt, dass es mit der Antwort wegen der Vielzahl der Anfragen ein wenig dauern könne. Nach rund einem Jahr kam dann tatsächlich Post aus Berlin - Osterholt bekam 29 Dokumente an die Hand, mit denen er die Einsatzorte seines Halbbruders unter anderem in Brüssel und Paris nachvollziehen konnte.
Bis zum Herbst des vergangenen Jahres ließ er es dabei bewenden. Dann las er sich alles noch einmal durch und entdeckte eine Auffälligkeit. Das Begleitschreiben der WASt habe einen Hinweis enthalten, dass im Militärarchiv in Freiburg auch eine Akte „Erwin Osterholt“ geführt werde. Seine Anfrage dort ergab, dass es sich um die Gerichtsakte des Militärgerichts handelte. Interessiert am Inhalt, ließ sich Osterholt die Akte übermitteln. Vor Gericht sei damals ein Zwischenfall während einer Übung im November 1943 verhandelt worden, bei dem ein junger Soldat erschossen wurde. „Bei dieser Übung wurde mit Platzpatronen geschossen, aber durch eine unglückliche Nachlässigkeit war in einem Gewehr eine scharfe Patrone. Wie die scharfe Patrone ins Gewehr kam, wurde letztendlich nicht geklärt“, sagt Osterholt.
Der Prozess sei auf 100 Seiten dokumentiert. Unter den fünf Angeklagten sei auch Erwin gewesen. Er sei aber mit drei weiteren Kameraden und Vorgesetzten freigesprochen wurde. Der Todesschütze, der nicht wusste, dass in seiner Waffe eine scharfe Patrone gesteckt habe, sei zu sechs Monaten in einer Strafkompanie und anschließend „zur Bewährung“ an die Ostfront verurteilt worden. Der Gerichtsprozess fand in Ardres statt, Standort der 156. Res.-Division, Abschnitt Calais. Wie aus den Gerichtsakten hervorgeht, sei auch Erwin dort stationiert gewesen.
Ardres liegt in der Normandie, hat etwa 3500 Einwohnern und liegt etwa zwölf Kilometer von der Hafenstadt Calais entfernt. Anfang Juni machte er sich auf den Weg nach Frankreich. „Mit dem Google-Übersetzer hatte ich einen Text in französisch vorbereitet. Mit dem Text und den Fotos ging ich zum Rathaus, um dort zu erfragen, wo dieses Haus wohl sein könnte“, erzählt der Weseker. Die Dame am Empfang gab ihm zu verstehen, dass in Kürze der Büroleiter komme, der deutsch könne. Als der sich dann das Foto ansah, bestätigte er Osterholts Vermutung, dass er sich bereits in genau diesem Gebäude befand. Gemeinsam schaute man sich das „Hotel de Ville“ von innen und außen an einschließlich der „Schreibstube“ im Obergeschoss, aus der ein Sitzungssaal geworden war. Sein Gesprächspartner habe großes Interesse an dem damaligen Geschehen und an den Gerichtsakten. „Ich ging dann durch Ardres und stellte mir vor, mit welchen Augen und Gefühlen mein Bruder Erwin diesen Ort erlebt hatte“, erzählt der 73-Jährige.
Das heutige Rathaus des Städtchens Ardres diente den deutschen Besatzern als Divisions-Gefechtsstand. Das zeitgenössische Foto hatte Erwin wohl einst an seine Familie geschickt. © privat
Erwin kam am 17. März 1945 in Moersbrunn bei Hagenau, Frankreich, bei einem Fliegerangriff ums Leben. Sein Halbbruder Klemens, ein Kind der Nachkriegszeit ist froh, knapp 80 Jahre später ein fehlendes Puzzleteil der Familiengeschichte gefunden zu haben.
Borkener Zeitung 30.10.2024